Fremdschamhölle auf der Bowlingbahn
Nach der kürzlich erschienenen 4. Staffel haben "Die Discounter" eine längere Pause angekündigt. In die Bresche springen Produzent Christian Ulmens "Pyjama Pictures" selbst mit einer anderen, neuen Mockumentary, die nach ähnlichen Prinzipien funktioniert.
Anstatt einer Supermarkt-Filiale ist der Schauplatz diesmal "Becky's Bowlingbahn", selbstverständlich inklusive Deppen-Apostroph. Inhaberin Becky (Andrea Sawatzki) möchte Tochter Stella (Franziska Winkler) unbedingt zu ihrer ersehnten Karriere als Sängerin verhelfen. So ging Becky einen Deal mit dem völlig abgehalfterten Musikproduzenten Gerry Star (Sascha Nathan) ein, der seinen letzten Erfolg noch im alten Jahrtausend hatte: er darf kostenlos in einem Raum ihrer Bowlingbahn wohnen, wenn er Stella dafür auf ihrem Weg zur Berühmtheit entscheidend unterstützt.
Die halbe Stammbesetzung der ersten Staffel kennen wir damit bereits. Der burnoutgeschädigte Hausmeisterzausel Michael (Lars Rudolph) kann zufällig leidlich Schlagzeug spielen, und der neue Koch Big B. (Noah Tinwa) erhielt seine Stelle vermutlich vor allem aufgrund seiner Fähigkeiten an der E-Gitarre, um das Trio "Family Strike" zu komplettieren. Die schnell von allem genervte Helli (Caro Cult) ist zwar nicht musikalisch, kennt sich dafür aber am besten mit den Betriebsabläufen aus und hält den Laden zusammen.
Den durchgehenden roten Faden der 8 Episoden umfassenden ersten Staffel, die in gut verdauliche Häppchen aufgeteilt ist, bilden Gerrys Bemühungen, seine Band erst zur Teilnahme und dann zum Gewinn des Deggendorfer Songcontests zu führen. Jede Folge hält dafür neben diversen Gaststars wie Robert Stadlober oder Ben Becker genügend Stolpersteine auf dem Weg zum Ziel bereit.
Wie schon bei "The Office" und seinen diversen internationalen Ablegern ist das Gefühl der Fremdscham Leitmotiv. Während Michael Scott oder Bernd Stromberg im Laufe der Jahre ihren Cringe-Faktor langsam aber sicher steigerten, geht Gerry beinahe von Anfang an in die Vollen. Er hat verstanden, dass sein Leben schon längst in einer Sackgasse steckt und er eigentlich fast nichts mehr zu verlieren hat. So braucht ihm selbst auch nichts mehr peinlich zu sein, wenn er ohne Tabus darum kämpft, wenigstens seine momentane Behausung zu behalten.
Während man mit den rund zwanzigminütigen Folgen, berühmten Gästen und unerträglich zu beobachtendem Verhalten viele Elemente der "Discounter" übernimmt, ist einer der Hauptunterschiede zwischen den beiden Serien, dass die Dialoge in "Gerry Star" bei weitem nicht so improvisiert wirken. Dabei waren die spontanen Performances bei Kolinski Segen und Fluch zugleich – nicht immer kam pures Comedygold dabei heraus, doch hatte man sich einmal an den damit einhergehenden Anarcho-Faktor gewöhnt, trug genau dieser zum Charme der Show bei.
Auf dem Bowlingparkett scheint es gewiss nicht gesitteter, dafür etwas geplanter zuzugehen. Letztendlich versteckt sich jedoch auch an diesem Ort eine epische Tragik unter der größtenteils brachialen Comedy. Je öfter man sich unschlüssig die Frage stellt, warum all diese skurrilen Figuren sich miteinander abgeben und einander immer noch eine weitere Chance einräumen, dräut unvermeidlich die schmerzhafte Erkenntnis der Alternativlosigkeit. Sind doch auch wir alle im wahren Leben normalerweise an dem bestmöglichen Ort, den wir hier und jetzt erreichen können. Es kann lange dauern, sich seinen gewünschten Platz zu erarbeiten, und mancher Mensch würde sich glücklich schätzen, wenn ihm dies je gelänge. Einstweilen muss man sich mit den aktuellen Umständen arrangieren, so übel diese auch sein mögen.
Sartres "Die Hölle sind die anderen"
war wohl nicht die intendierte Kernaussage des Regie- und Autorenduos
Tom Gronau und Max Wolter. Sie arbeiten fast immer eher mit grobem
Keil statt mit feiner Klinge, so dass nur ganz selten mal Platz für
in Ansätzen leise Momente ist, wenn zum Beispiel die Akteurinnen und
Akteure in genretypischen Testimonials ein wenig von sich selbst
erzählen dürfen. Im Fokus steht buchstäblich kompromisslose Unterhaltung, und
mit diesem Genier-Porno geben die Macher diesbezüglich alles, in
der Hoffnung auf möglichst viele Strikes. Ob das Rennen gegen die
gewohnheitsbedingte Abstumpfung des Publikums gewonnen werden kann,
wird sich anhand der Abrufzahlen zeigen. Wie bei allen anderen
vergleichbaren Formaten sollten die Verantwortlichen hinter "Gerry
Star" bedenken, dass auch die Fahnenstange der Peinlichkeit
zwangsläufig ein Ende hat.
Die erste Staffel "Gerry Star" läuft seit 10.01.2025 bei Amazon Prime Video.