Frieden am Z(h)aun? Weiterhin Fehlanzeige!
Vor drei Jahren landete Netflix einen riesigen Erfolg mit "Arcane". Die neunteilige erste Staffel der Animationsserie begeisterte rund um die Welt längst nicht nur eingefleischte Fans des Online-Multiplayers "League of Legends". Am Samstag erschienen in Form von "Akt 1" die ersten drei Folgen der zweiten Staffel.
Bei aller taktischen Tiefe und Komplexität, über die das Videospiel "LOL" verfügt, kann man nicht behaupten, das Spielprinzip sei besonders storylastig. Riot Games und Fortiche Production, die Macher hinter "Arcane", fanden einen Weg, um eine Serie zu kreieren, die Eingeweihte ebenso wie Neulinge dennoch sofort in ihren Bann zieht.
Einerseits wurde dies erreicht mit einer ausgeklügelten und hervorragend geschriebenen Geschichte. Zu Beginn der ersten Folge werden wir gleich mitten in die Handlung geworfen – Exposition wird immer mal wieder nebenbei geschickt in die Story eingebaut. Wir sind live vor Ort, wenn im Prolog Vi und Powder, zwei Schwestern, während eines gewaltsamen Aufstandes ihre Eltern verlieren und zu Waisen gemacht werden. Der gutmütige Vander nimmt sich der beiden Mädchen an und adoptiert sie.
So wachsen die Schwestern bei ihm in der Unterstadt Zhaun auf, wo die Armen, Schwachen und Verbrecher leben, machen aber immer mal wieder einen heimlichen Abstecher nach Piltover. Die Oberstadt, die den Gebildeten, Reichen, Mächtigen und dem Adel vorbehalten ist, übt einen großen Reiz auf die Mädchen und ihre beiden Adoptivbrüder aus, und lädt zum einen oder anderen Raubzug ein. Bei einem dieser Trips setzen sie aber Ereignisse in Gang, deren Auswirkungen für die kommenden Jahre sie nicht einmal ahnen konnten...
Die seit langem bestehenden klaren Fronten dieser Welt verhärten sich immer weiter. Innerhalb der beiden Stadtteile kommt es zu Rivalitäten, Allianzen, Treueschwüren und -brüchen. Doch auch über die Grenzen der gesellschaftlichen Klassen hinweg beobachten wir vereinzelte Annäherungen, wenn dies gerade opportun erscheint. Jede der vielen Hauptfiguren bekommt mit der Zeit ihre eigene Hintergrundgeschichte, aus der nachvollziehbare Motivationen und Ziele hervorgehen. Viele von ihnen haben sogar ehrenwerte Anliegen. Und doch müssen wir tatenlos zusehen, wie sich über die Dauer von neun Episoden nach und nach ein gewaltiger Konflikt zusammenbraut, den so kaum jemand wirklich wollte, der aber nun unausweichlich scheint.
Durch schicksalhaft zu nennende Umstände werden im Zuge der Geschehnisse auch Vi und Powder, auf deren Verhältnis ein besonderer Fokus liegt, von einander getrennt. Bis zu ihrem Wiedersehen passieren Dinge, die das Vertrauen der zuvor so innigen Schwestern in einander zutiefst erschüttern. Doch ihre schwierige Beziehung ist nur eine von vielen, die von den allgemeinen Unruhen in Mitleidenschaft gezogen wird.
"Arcane" ist durchgängig weit mehr als eine seichte Seifenoper über familiäre Streitigkeiten. Über die ganze Stadt hinweg wird ein extrem dichtes Beziehungsgeflecht gesponnen, so dass auch klein und unwichtig wirkende Entscheidungen jeder einzelnen Person früher oder später gravierende Folgen nicht nur für sie selbst haben werden. Zuverlässig ergeben sich wiederholt Dilemmata, die den Protagonisten klare Entscheidungen abverlangen. Als Außenstehender sieht man so die ganze Gesellschaft immer schneller auf die Katastrophe zurasen und fragt sich, ob und wie dies wohl noch zu verhindern wäre. Doch beinahe wie in einem Shakespeare-Drama beschleicht einen das Gefühl, das Schicksal wolle es wohl so, dass am Ende viele dran glauben müssen.
Das zweite Erfolgsgeheimnis der Show liegt in ihrer ausgeprägten Kreativität, was die visuelle Darstellung betrifft. Unheimlich mutig wird hier zwischen diversen Stilrichtungen gewechselt. Enthält der Grundton bereits Elemente aus Cyberpunk, Gothic und Fantasy, werden manche Szenen mit hohem Realismusanspruch gestaltet, andere wiederum eher Anime-typisch überzeichnet. Emotionale Ausschläge hebt man beispielsweise auch farblich hervor. In Sachen Einfallsreichtum und grafischer Variabilität legt die zweite Staffel mit ihren bisherigen ersten drei Folgen sogar nochmal eine kleine Schippe drauf.
Für den hohen Qualitätsanspruch der Serie spricht auch, dass wir zwischen den ersten beiden Staffeln ganze drei Jahre warten mussten. Das ist gewagt in einem Business, in dem man üblicher Weise so viel wie möglich vom einmal aufgekommenen Hype ernten möchte. Die Euphorie der Fans scheint unter der langen Wartezeit nicht gelitten zu haben, sondern ist eher noch weiter gewachsen. Auf den zweiten und dritten Akt mit den Folgen vier bis neun der zweiten Staffel bin ich jedenfalls sehr gespannt!