"Inklusion spielte eine riesen Rolle!" - Hameln-Cast im Interview
Zurzeit lehrt uns ZDFneo mit seiner sechsteiligen Eigenproduktion "Hameln" erfolgreich das Fürchten. Zwei der Hauptdarsteller*innen sprechen jetzt bei Plotgewitter über ihre Beteiligung an der Horror-Serie, die komplexe Darstellung körperlicher Behinderungen und ihren persönlichen Umgang mit Schuldgefühlen: Caroline Hartig und Jonathan Elias Weiske im Exklusiv-Interview.
Eure aktuelle Serie "Hameln" (ZDFNeo und ZDF-Mediathek) erhält gute Kritiken und erreicht ein großes Publikum - herzlichen Glückwunsch. Du bist ja ein hundertprozentiges Schauspielerkind, Jonathan - deine Eltern sind beide auch in der Branche tätig. Ich könnte mir vorstellen, dass das Einfluss auf deine Berufswahl hatte?
Jonathan Elias Weiske: Ja,
durch meine Eltern bin ich schon sehr früh in diese Branche
gestolpert und bisher irgendwie nie wieder rausgestolpert (lacht).
Meine Eltern hätten sich tatsächlich was anderes für mich
gewünscht, Zitat: "Mach doch bitte was Sicheres!". Aber um
mich war es schon mit der ersten Rolle, als ich 5 Jahre alt war,
geschehen. Danach gab es kein Zurück mehr, ich hab's geliebt und
wollte nichts anderes mehr machen.
Als Schauspieler und Synchronsprecher hast du schon viel Erfahrung sammeln dürfen. Was blieb dir bisher als besonders schön oder herausfordernd im Gedächtnis?
Jonathan: Meine schönsten Rollen und Projekte waren definitiv die letzten Produktionen - "Hameln", "Dornröschen" und "Schnee im Juni", da sie alle eins gemein haben: sie sind absolute Herzensprojekte mit unfassbar spannenden und verschieden herausfordernden Rollen. Am schwierigsten war aber auf jeden Fall die Rolle "Sam" aus "Hameln", da ich dort körperlich und gebärdensprachlich immens gefordert war!
Caroline, du bist seit 2011 als Film- und Fernsehschauspielerin aktiv. Wie zuletzt "Finja" in "Hameln" waren viele deiner bisherigen Rollenfiguren geprägt vom Unperfekten, Konfliktbeladenen. Reizt dich das besonders, und in welcher Situation würdest du schauspielerisch gerne mal stecken, wenn du es dir aussuchen könntest?
Caroline Hartig: Was mich beruflich besonders fasziniert, ist die authentische Darstellung von Charakteren. Im Alltag müssen wir alle mit Unvollkommenheiten und Konflikten umgehen, und genau deshalb finde ich es so wichtig, dass diese Themen auch in der Kunst aufgegriffen und beleuchtet werden. Es begeistert mich, die Besonderheiten herauszuarbeiten, die jeden Menschen und jede Rolle einzigartig machen, und diese mit Leben zu füllen. Für die Zukunft wünsche ich mir, weiterhin an bedeutungsvollen historischen Projekten mitzuwirken, aber auch moderne Themen, actionreiche Geschichten und starke Frauenfiguren reizen mich sehr. Es wäre eine Freude, ganz verschiedene Geschichten und Genres spielen zu dürfen.
"Hameln" war nun dein erstes Projekt mit richtigen Horror-Elementen. Wie waren diesbezüglich deine Erfahrungen – kam es schon mal vor, dass du und die anderen Ensemblemitglieder euch bei der Arbeit wirklich gegruselt habt, oder ist dafür die Realität am Set zu allgegenwärtig?
Caroline: Tatsächlich habe ich bereits mit 12 Jahren begonnen, im Dungeon zu spielen, wo die düsteren Geschichten Hamburgs wie der große Brand, die Pest oder der Klabautermann erzählt werden. Dadurch kam ich schon sehr früh mit dem Genre Horror in Berührung. Am Set ist es aber durch meine eingeschränkte Sicht und düstere Motive schon hin und wieder dazu gekommen, dass ich mich vor den Geisterkindern erschrocken habe, wenn sie aus einer dunklen Ecke gekommen sind. Und im Hotel habe ich vor dem Schlafengehen nochmal unters Bett geschaut, nur um sicherzugehen.
Für "Hameln" hatten einige Ensemblemitglieder die Aufgabe, Menschen mit körperlicher Behinderung seriös und glaubhaft darzustellen. Caroline, du spielst eine sehbehinderte junge Frau namens Finja, die viel Wert auf ihre möglichst eigenständige und unabhängige Lebensweise legt. Finja war nicht deine erste "blinde" Rolle. Beschreib uns doch bitte deine Eindrücke mit den stark sichteinschränkenden Kontaktlinsen, die du während der Dreharbeiten getragen hast. Hat dies die Wahrnehmung deiner Umgebung in Bezug auf Barrierefreiheit verändert?
Caroline: Während der dreimonatigen Drehzeit war meine Sicht durch die Sklerallinsen stark eingeschränkt. Bei gutem Licht konnte ich 15 - 20% sehen, in der Dunkelheit oft gar nichts mehr. Diese besondere Herausforderung, aber auch die intensiven Erfahrungen, die ich bereits bei "Weingut Wader" [Anm.: ARD-Reihe, 2018-2019] sammeln durfte, haben mich nachhaltig geprägt.
Wie hat sich das im Arbeitsalltag ganz konkret geäußert?
Caroline: Interessanterweise habe ich während dieser Zeit begonnen, Teammitglieder eher an ihrer Stimme als an ihrem Gesicht zu erkennen. Meine Wahrnehmung von Geräuschen wurde insgesamt viel intensiver. Oft habe ich mich am Set in eine Ecke gestellt und einfach gelauscht, um all die Eindrücke und die geschäftige Atmosphäre besser verarbeiten zu können. Bis zum letzten Drehtag war ich jedes Mal unglaublich dankbar, wenn ich die Linsen herausnehmen und die Farben und die Umgebung wieder klar und deutlich sehen konnte. Es war eine Erfahrung, die mir die Bedeutung von Wahrnehmung auf ganz neue Weise nähergebracht hat und mir zeigt, wie glücklich wir uns über das Augenlicht schätzen können.
Jonathan, dein Charakter "Sam" musste zeigen, dass und wie er sich in den letzten Jahren auf die Hörbehinderung seines Bruders Jannik eingestellt hat. Bedingt durch die Story haben körperliche Behinderungen eine große Bedeutung. Dabei ist euer Kollege Constantin Keller der einzige im Cast, der tatsächlich hörbehindert ist. Wie wichtig war es euch, die Situation von Menschen mit Behinderung für euer Publikum korrekt abzubilden, und gab es dazu eine Beratung oder ein Coaching? Würdest du sagen, dass mit der Serie zumindest indirekt auch ein Inklusionsgedanke gefördert werden sollte?
Jonathan: Inklusion spielte von Anfang an eine riesen Rolle, auch schon in den Vorbereitungen! Ich habe mich mit Leuten aus der Gehörlosen-Community getroffen, habe Unterricht in Gebärdensprache bekommen und habe mich in die Historie der Gehörlosen eingelesen. Für mich hat sich eine gänzlich neue Welt eröffnet, eine Welt, die seit jeher auf Exklusion basierte, in den letzten Jahrhunderten, aber auch heute noch, im hier und jetzt.
Gehörlose und auch Menschen mit vielen anderen Beeinträchtigungen sind nicht einfach behindert, nein, sie werden behindert, von ihrem Umfeld und von dieser Gesellschaft. Umso wichtiger war und ist es mir, genau darauf aufmerksam zu machen und vor allem dieser vollumfänglichen Sprache und der tollen Community dahinter gerecht zu werden.
Wie ist deine Meinung dazu, Caroline?
Über diese Frage freue ich mich besonders, denn ich glaube, es ist für die Zuschauer oft nicht ersichtlich, wie viel Vorbereitung und Arbeit wir in die Figuren gesteckt haben. Jonathan hat wie gesagt für seine Rolle drei Monate lang Gebärdensprache gelernt, Riccardo hat ein Basketball-Rollstuhlteam regelmäßig besucht, und auch ich habe mich intensiv mit dem Thema Blindheit auseinandergesetzt.
Durch meine Erfahrungen bei "Weingut Wader" konnte ich einiges in die neue Rolle mitnehmen. Ich habe Blindensport ausprobiert, ein Blindenstock-Training am Alexanderplatz absolviert und mich mit sehbehinderten Menschen in meinem Alter ausgetauscht. Besonders spannend und herausfordernd war es, mich in Finjas Perspektive einzufühlen, da sie mit 7% Sehkraft eine andere Wahrnehmung hat als Tori Wader [aus "Weingut Wader"], die vollständig blind ist. Um diese Feinheiten authentisch darzustellen, war der Austausch mit betroffenen Frauen in meinem Alter besonders wichtig. Zudem haben wir uns intensiv damit beschäftigt, wie moderne Apps und Technologien in ihren Alltag integriert werden können.
Und wie waren deine Erfahrungen speziell während der Dreharbeiten?
Caroline: Am Set lag der Fokus stärker auf der Gebärdensprache. Hier hatten wir immer zwei Dolmetscher*innen vor Ort, was eine große Unterstützung war. Dennoch hätte ich mir zusätzlich eine*n Expert*in für Sehbehinderungen gewünscht, um noch mehr fachliche Begleitung zu haben.
Es ist mir wichtig zu betonen, dass die Produktion lange nach Schauspieler*innen mit Seh- oder Gehbehinderungen gesucht hat. Letztlich haben sie keine*n gefunden, der/die die Ansprüche umsetzen konnte. Das hatte neben fehlender Zeit und finanziellen Mitteln auch dramaturgische Gründe, insbesondere in Bezug auf die Rolle des Ruben. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass Inklusion in Film und Fernsehen noch stärker in den Fokus rückt. Es gibt keine authentischere und ehrlichere Darstellung als die von Menschen, die selbst mit einer Behinderung leben. Die Arbeit mit Schauspieler*innen wie Constantin zeigt, wie bereichernd und wichtig solche Besetzungen sind.
Im Bemühen um Finjas Herz musste Sam sich gegen einen etwas ungewöhnlichen Konkurrenten durchsetzen. Von Ruben wurde Sam zudem immer wieder als Skeptiker und Bedenkenträger dargestellt, und etwas Wahres war da ja auch dran. Jonathan, warst du gerne die Stimme der Vernunft, oder hättest du Finja lieber mit noch mehr Tatendrang beeindruckt?
Jonathan: Sam und ich waren sehr gerne die Bedenkenträger, nicht nur weil es viel logischer war - ich meine: Geisterkinder? Wirklich? Nein, auch einfach, weil es authentisch war und die Gruppendynamik aller, auch zwischen Finja und Sam, gerade von dieser Authentizität aller lebt und blüht.
Was die Show aus meiner Sicht von anderen positiv abhebt: sie ist keine reine Geisterbahn, sondern bietet interessante Denkanstöße zu Schuld und deren Eingeständnis gegenüber sich selbst und anderen an. Ich fand das teilweise beängstigender, als noch so schaurige Untote auf dem Bildschirm. Hat die Produktion auch euch dazu gebracht, über eure eigene berufliche oder private Fehlerkultur nachzudenken?
Jonathan: Indirekt bestimmt, aber da ich schon immer alles hinterfrage und immer versuche, mich und meine Entscheidungen zu reflektieren, würde ich sagen, die Serie hat diesbezüglich nichts Neues aus mir hervorgebracht. Zum Glück auch keine dunklen Geheimnisse (lacht). Nein, ich ernähre mich vegan, lebe sehr bewusst für Umwelt und Natur und kommuniziere generell alles, bevor es einen verschlingt!
Caroline: Das Thema Schuld und Gewissen finde ich einen sehr interessanten Denkanstoß. Ehrlichkeit und Loyalität waren mir schon immer sehr wichtig, und ich glaube, dass niemand frei davon ist, Fehler zu machen. Aber es ist essenziell, diese zu erkennen, anzusprechen und sich dazu zu bekennen. Am Ende des Tages lebt man ja immer mit seinen Gedanken und sollte mit sich selbst im Reinen sein.
Verratet uns doch abschließend noch, wie eure aktuellen Pläne aussehen. Woran arbeitet ihr zurzeit, und wann und wo können wir euch das nächste Mal im Fernsehen sehen? Habt ihr vielleicht allgemein noch einen Tipp bezüglich toller Filme oder Serien, die euch zuletzt beeindruckt haben?
Jonathan: Ich befinde mich noch in der Winterpause, ich denke mal, ab Februar/März geht's dann langsam wieder los. Aktuell läuft neben Hameln auch die Neuverfilmung von "Dornröschen und der Fluch der siebten Fee", mit mir als Prinz Torin, in der ZDFmediathek, sowie die Highschool-Komödie "Misfit" mit mir als "Justin Himmelmann" bei Netflix. Unabhängig von meiner Mitwirkung kann ich euch sehr die deutsche Netflix-Serie "Die Kaiserin" empfehlen, welche gerade in die zweite Staffel gestartet ist. Ich bin mittendrin und liebe sie!
Caroline: Das Aufregende an der Schauspielerei ist, dass man nie weiß, was und wann als Nächstes kommt. Filme und Serien, die mich in letzter Zeit bewegt haben, waren "Juror #2", "Anora", Emilia Peréz", aber auch deutsche Projekte wie "Vena". Ich freue mich, dass immer mehr junge Filmemacher*innen sich verwirklichen können.
Am 10.01. kommt "Gerry Star" bei Amazon Prime raus. Dort haben Max Wolter und Tom Gronau, ein Schauspielkollege und Freund, Regie geführt, und ich bin gespannt, was sie gezaubert haben.
Danke euch ganz herzlich für eure Zeit und die interessanten Einblicke in eure Arbeit. Ich hoffe, wir sprechen uns anlässlich eines eurer zukünftigen Projekte mal wieder. Bis dahin alles Gute euch und viel Erfolg!
Und wer "Hameln" noch nicht gesehen haben sollte: am Sonntag, den 19.01.2025 laufen die Folgen 3 - 6 noch einmal ab 20.15 Uhr bei ZDFneo. Alle sechs Folgen kann man zudem jederzeit in der ZDF Mediathek sehen. Dort gibt es auch Jonathans "Dornröschen und der Fluch der siebten Fee", und in der ARD Mediathek kann man immer noch "Weingut Wader" mit Caroline abrufen.