"The Last Ship" - Musikalische Traumreise in Herz und Seele

05.06.2024

2013 veröffentlichte Sting mit "The Last Ship" ein Album als Liebeserklärung an seine Heimat: an die Gemeinschaft, in der er aufwuchs, von der ihm aber auch bewusst war, dass er dort niemals würde seine Träume in die Tat umsetzen können.

Aus dem Album entstand ein Musiktheaterstück, in dem die Menschen aus Stings Kindheit wieder zum Leben erwachten, zunächst ein Theater am Broadway bevölkerten, und dann mit großem Erfolg auf Tournee durch Großbritannien, die USA und Kanada gingen. Seit über drei Jahren kann man die mitreißende Geschichte auch in Deutschland, unter anderem am Theater Koblenz, erleben.  

Werbeplakat für die Aufführung von "The Last Ship" vor dem Theater Koblenz
Werbeplakat für die Aufführung von "The Last Ship" vor dem Theater Koblenz

"The Last Ship", so betont Sting immer wieder, sei kein klassisches Musical. In der Tat ergeben sich im Rahmen der Aufführung Phasen, in denen kaum gesprochen, dafür umso mehr gesungen wird. Beschwerden darüber, dass mitunter ein Song an den anderen anschließt, hört man hingegen keine. Denn immerhin stammen sie sämtlich aus der Feder eines der größten und erfolgreichsten Pop- und Rock-Komponisten aller Zeiten.

Den meisten Stücken dieses Projekts verlieh der wandlungsfähige Musiker einen folkloristischen Grundton, ganz im Stile der traditionellen Musik seiner Heimat. Sehr akustisch geht es dabei zu, mit Geige, Piccoloflöte und Northumbrian Pipes in der Begleitband, sensibel und sanft, oft genug auch flott, fröhlich und energiegeladen, und immer wieder mit Gänsehaut erzeugendem, teils vielstimmigem Gesang. Nicht nur hier leistet das Schauspielensemble des Theater Koblenz, situatitv unterstützt von Mitgliedern des hauseigenen Opernchors und Extrachors, Beeindruckendes. 

Inszeniert von Intendant Markus Dietze, wird die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der auszog, um seinem Schicksal zu entrinnen. Im Alter von fast 18 Jahren sieht sich Gideon (Paul Mannebach) mit den Erwartungen seines Vaters (Michael Hamlett) konfrontiert, nach einem schlimmen Arbeitsunfall dessen Platz in der Werft einzunehmen. Gideon könnte sich nichts Übleres vorstellen, verlässt fluchtartig sein zu Hause und damit schweren Herzens auch seine geliebte Freundin Meg (Lena Fuhrmann) - mit dem aufrichtigen Versprechen auf den Lippen, so bald wie möglich zu ihr zurückzukehren.

Doch es kommt anders, und er treibt sich 17 Jahre auf See herum, bis er sich durch die Nachricht vom Tod seines Vaters gezwungen sieht, erstmals wieder den Ort seiner Kindheit anzusteuern. Dort muss er (jetzt gespielt von Marcel Hoffmann) erkennen, dass niemand auf ihn gewartet hat - auch nicht Meg (jetzt: Monika Maria Staszak). Diese hat etwas aus ihrem Leben gemacht, betreibt unter anderem den örtlichen Pub, und hat eine fast erwachsene Tochter namens Ellen (Esther Hilsemer), die kein Jahr nach Gideons Flucht auf die Welt kam.

Um die Gemeinschaft in Wallsend ist es nicht zum Besten bestellt. denn die Werft als Hauptarbeitgeber vor Ort steht vor einer Krise. Der Abnehmer des aktuell zu bauenden Schiffes ist pleite, und in der Thatcher-Ära gehören staatliche Subventionen der Vergangenheit an, wie Regierungsvertreterin Baroness Tynedale (Cynthia Thurat) in abschätzigem Tonfall erklärt. So droht der Besitzer der Werft (David Prosenc) mit der endgültigen Schließung, was dem wirtschaftlichen Kollaps der ganzen Gegend gleichkäme. Ein von Gewerkschaftsvertreter Billy Thompson (Sebastian Haake) geforderter Streik klingt wie die einzige Lösung für die Belegschaft. Doch dem strengen aber gerechten Vorarbeiter Jackie White (Wolfram Boelzle) ist klar, dass dies verheerende Auswirkungen für alle haben könnte. Während Jackie versucht, so gut wie möglich seine Leute zusammenzuhalten, droht ihm eine ernstliche Erkrankung die hierfür notwendige Kraft zu rauben...

Gewisse Parallelen zwischen Gideons Werdegang und dem realen Leben von Sting drängen sich geradezu auf. Auch er musste zunächst seine Heimat verlassen, um zu dem Mann zu werden, der er sein wollte. Aber ebenso Adrian Sanderson (Jona Mues), der durchgeistigte Werftarbeiter, der jederzeit bereitwillig große Schriftsteller zitiert, oder Ellen, die von einem Konzert mit ihrer Band in London und einem anschließenden Plattenvertrag träumt - sie alle repräsentieren Aspekte aus Stings Leben und stehen gleichzeitig für authentische Figuren aus dem Ort seiner Kindheit und Jugend. Dabei spürt man in jedem Satz die liebevolle Ehrerbietung, die in der Nachzeichnung seines ehemaligen Umfeldes so überdeutlich mitschwingt - auch für den Trunkenbold Davey Harrison (Christof Maria Kaiser), der nach eigener Aussage seit Jahrzehnten nicht mehr nüchtern war, sich aber seinen Platz im Gesamtgefüge durch ehrliche und harte Arbeit verdient, und darin zugleich viel Halt findet. Man lernt Menschen mit Fehlern und Schwächen kennen, die das Herz am rechten Fleck haben und alle ihren Teil zu einer funktionierenden Gemeinschaft beitragen, bis diese von außen massiv bedroht wird.

Die Frauen tun bei alledem weit mehr, als nur ihren Männern den Rücken freizuhalten. Jackie wäre nichts ohne seine Peggy (Raphaela Crossey), die als Krankenpflegerin so gut wie alle Werftarbeiter schon mindestens ein Mal wieder zusammengeflickt hat, aber auch viel Gespür für den kritischen Gesundheitszustand ihres Mannes beweist.
Meg hat ihre unverhoffte Teenager-Schwangerschaft gemanagt, schweren Herzens ihre eigenen Träume und Ziele beerdigt, sich durch viel Fleiß und Geschick von ihren Eltern und dem nicht vorhandenen Vater ihrer Tochter emanzipiert und aus eigener Kraft Unabhängigkeit erreicht - wenn diese Erlebnisse sie auch ein wenig desillusioniert zu haben scheinen. Mrs. Dees (Theresa Dittmar) hat es auch nicht immer leicht, scheint aber alles im Leben mit viel Humor und Augenzwinkern zu nehmen - inklusive der Tatsache, dass sie ausgerechnet einen Werftarbeiter heiraten musste. Und Ellen eifert bereits in jungen Jahren ihrer Mutter nach, strebt in beispielhaftem Feminismus ein selbstbestimmtes, freies Leben an, ohne dabei willkürliche Grenzen Dritter zu akzeptieren. 

Die geschilderte Ausgangslage bereitet im wahrsten Sinne die perfekte Bühne für lauter Themen und Konflikte, zu denen sich in Windeseile Zugang finden lässt. Hier geht es um die Bedeutung von Arbeit über die existenzielle Frage des Broterwerbs hinaus. Was bleibt jemandem, dem die Quelle seines Selbstwertes, seiner Identifikation, ja seiner Daseinsberechtigung unter den Füßen weggezogen wird? Wartet auf uns alle eine derartige Zukunft, sobald unsere Gesellschaft sich einmal darauf verständigt, nicht mehr nach dem Wert einer Sache zu fragen, sondern nur noch nach den Kosten? Wie lange wird es dauern, bis auch uns eines Tages jemand die Vorhaltung macht, rein wirtschaftlich gesehen entbehrlich zu sein? 

Verschiedene Formen von Abschied und Wiederkehr kommen vor, es gibt Generationenkonflikte zwischen Eltern und Kindern, wobei besonders spannend zu beobachten ist, wie letztere sich Jahre später ihrerseits in der Elternrolle verhalten - gelingt es ihnen, selbst alles besser zu machen? Es geht um das Bändigen von Geistern der Vergangenheit und um das aktive Auseinandersetzen mit der eigenen Zukunft, einen bisweilen schwarzhumorigen Umgang mit Religion, um Zusammenhalt und Freundschaft, und natürlich auch um Liebe: immerhin möchte doch jeder wissen, ob Meg und Gideon nach all den Jahren vielleicht doch wieder ein glückliches Paar werden können. Die Beantwortung dieser Frage aber steht bei Weitem nicht im Mittelpunkt des Geschehens. 

Bei "The Last Ship" ist die ganze Mannschaft, das ganze Ensemble, der Star. Wie im wahren Leben ist jede Person die Hauptfigur ihrer eigenen Geschichte, ist aufgerufen, das Beste aus ihren Umständen zu machen. In toll geschriebenen Dialogen gibt es für beinahe jede Figur mindestens einen so richtig denkwürdigen Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte. Ein zusätzlicher namenloser Star ist die überaus leistungsstarke Videofläche, die großräumig fast über die gesamte Rückwand der Bühne hell erstrahlt, und sehr variabel jede denkbare Umgebung erzeugen kann. Für die Atmosphäre des Stücks eine wertvolle Ergänzung. 

Und dann sind da eben noch diese Lieder. Es gibt Abwandlungen von "All this time" und "When We Dance", zwei von Stings größten Hits, und auch "Island of Souls" werden Fans in leicht veränderter Form wiedererkennen. Davon abgesehen aber ist an Musik und Lyrics alles neu. Das ist mutig, und es funktioniert. Alle Stimmungen sind vertreten, die Tonfolgen eingängig, aber nie anbiedernd, und geschickt wird während einiger Songs eine zweite Zeitebene eröffnet, um das Damals neben dem Heute stehen zu lassen. Dann tauchen "Young Meg" und "Young Gideon" wieder auf, tanzen im Hintergrund als Erinnerung an das einst süße, glückliche Pärchen durch die Kulisse, und lassen ihre erwachsenen Versionen darüber nachdenken, was sie einmal waren und was sie heute sind. Gewisse Themen, bestimmte Melodien, finden aufmerksame Zuhörer immer wieder im Rahmen der dreistündigen Aufführung (inklusive Pause), und vor allem den mächtigen, berauschenden Titelsong inklusive seiner Reprise und des großen Finales mag man gar nicht oft genug hören.

Die Arbeit auf einer Werft stellt man sich anstrengend, grau, laut und unangenehm vor. So ist sie auch, aber selbst wenn entsprechende Untertöne in Stings Musiktheaterstück enthalten sind, überwiegen doch bei weitem die bunteren Akzente der Menschlichkeit, des Miteinanders und jeder Menge Gefühl. Und genügend gelungene Pointen gibt es auch. Dass die Rahmenhandlung bei alldem zumindest unter realistischen Gesichtspunkten ein wenig in einer Sackgasse endet, vermag mit einem Minimum an Leidenschaft für Fantasie und Symbolik niemanden zu stören. Im Gegenteil ist es jene märchenhafte Komponente, die das Publikum mit einem guten Gefühl auf den Heimweg schicken und Zuversicht für die Gestaltung des eigenen Alltags schöpfen lassen soll. 

In Koblenz segelt bald, nach bereits drei Wiederaufnahmen wegen des großen Erfolges, buchstäblich das letzte Schiff. Ich glaube, ich werde noch sehr, sehr lange ebenso wehmütig wie dankbar am Ufer stehen, um ihm und seiner so brillianten Besatzung nachzuwinken, bis sie vollständig am Horizont verschwunden sind...

In weiteren Rollen: 
Reinhard Riecke
Clara Jörgens
Christiane Thomas
Arsen Azatyan
Yael Shervashidze
Jacob Noble
Arkadiusz Głębocki
Peter Rembold
Eva Krumme


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